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Jens Mühling

Auteur van Mein russisches Abenteuer

13 Werken 83 Leden 3 Besprekingen

Over de Auteur

Bevat de naam: Jens Mühling

Werken van Jens Mühling

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Algemene kennis

Geboortedatum
1976
Geslacht
male
Nationaliteit
Germany
Geboorteplaats
Siegen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland
Beroepen
writer
journalist

Leden

Besprekingen

Sooo muß travel writing!
Der Autor war mir schon von seinem Ukraine-Buch "Schwarze Erde" bekannt und so hatte ich mich schon auf dieses - ältere - Buch von ihm gefreut, und ich bin nicht enttäuscht worden.
Der Autor trifft für mich genau den richtigen Ton zwischen genauer Beobachtung, Belesenheit und der richtigen Prise an Selbstironie und Lockerheit, die aber nie plump witzig daherkommt (er ist somit in allem das genaue Gegenteil von Andreas Altmann (Reise durch einen einsamen Kontinent), der mir nur als besserwisserisch, jammerlappig und penetrant um witzige Pointen bemüht in Erinnerung geblieben ist).… (meer)
 
Gemarkeerd
MrKillick-Read | 2 andere besprekingen | Apr 4, 2021 |
Inhalt: Unbildung über Rußland für rußlandtechnisch Ungebildete.

Im Stile eines Reiseberichts führt das Buch durch die Höhen, Tiefen und Weiten der russischen Landschaften und - angeblich - auch der russischen Seele. Der Autor bereist innerhalb eines Jahres verschiedene Städte und Dörfer in Rußland (Moskau, Sankt Petersburg, Sibirien, Steppe, Taiga) und mit russischem Bezug (Kiew). Er läßt sich dort treiben, geht verschiedenen kulturellen Spuren nach und trifft sich mit verschiedenen Menschen, vornehmlich mit Chaoten und Exzentrikern. Klar, in Rußland gibt es alles, aber man sollte doch die Mengenverhältnisse klar darstellen, Exoten vs. Iwan Normalverbraucher.
Stutzig wird man schon, wenn man auf dem Klappentext liest, daß das Buch überschwenglich von der deutschen, rußlandfeindlichen Presse gelobt wird (unter anderem von Stern, Zeit, SZ, FAZ). Zum momentanen Zeitpunkt und zum Veröffentlichungszeitpunkt des Buches (2013) gibt es keine Presse, die noch rußlandfeindlicher eingestellt wäre als die deutsche. Dies gibt einem zu denken! Wenn dann auch noch im Klappentext reißerisch behauptet wird, daß die Chaoten, denen der Autor im Laufe der Reise begegnet, das "echte Rußland" seien, dann weiß man doch schon, wohin die Reise gehen wird und wer den Bericht (mit)finanziert hat. Jedoch gelingt diese Einschätzung natürlich nur bei einer breiteren Allgemeinbildung und persönlicher Erfahrung mit Russen und Rußland. Die meisten ohne Vorwissen werden den Bericht wohl wie gegeben annehmen.

Meine Kritik, mit Zitaten:

Der Autor beginnt mit Klischeebestätigung (S. 10): "Es war einer jener Moskauer Abende, bei denen man im Nachhinein nicht mehr sagen kann, an welcher Stelle sie die Grenze zwischen beiläufigem Trinken und ernstem Besäufnis überschritten haben." Und damit macht er interessanterweise nichts anderes als sein “Lehrmeister”, der russische Filmdreher Juri. Durch ihn kam der Autor das erste Mal mit Rußland in Berührung. Juri erzählt den Deutschen, was sie über Rußland hören wollen – und der Autor ebenso!
Nunja, also die Gäste, welche mit mir schon einmal in Rußland waren, haben nicht das Asi-Rußland, sondern das Normalbürger-Rußland kennen gelernt. Natürlich gibt es auch die Unterschicht, aber das Buch soll eigentlich keine Unterschichtsstudie sein bzw. ist es zumindest anders deklariert, warum also dieser Einstieg? Oder soll uns dies etwas über den Autor sagen? Die Einstellung des Autors zum Thema Alkohol findet sich auf S. 148 nochmals: “Kopfschüttelnd unterbrachen sie mich: “Russischen Wodka gibt es nicht. Wodka ist erst im 15. Jahrhundert nach Rußland gekommen, aus dem Westen.” Und ich fragte zögernd: “Wie verbringt ihr dann eure Abende?”” Das heißt, er selbst kann sich keinen Abend ohne Besäufnis vorstellen.

Jedenfalls, im Suff philosophieren sie (S. 11): "Die rätselhafte russische Seele gibt es nicht. Die russische Seele ist nicht rätselhafter als der morgendliche Kopfschmerz nach einem Besäufnis." und beschließen, "auf keinen Fall in Rußland alt zu werden" (wieso eigentlich? dies wird leider nicht erklärt). Hochliterarisch.
Weiter geht es mit einer kurzen Erklärung, wie der Autor überhaupt erstmals in Berührung mit Rußland kam, und hier gibt er schon zu, welches Rußlandbild er damals hatte: Reiche Typen, arme Normalos, Mafia (S. 13). Leider erklärt er wieder einmal NICHT, ob sich dieses denn nun geändert hat; doch mein eigener Schluß ist, daß dem nicht so ist. Und so setzt er selbst durch die Verfassung solcher Bücher die Verbreitung der Klischees fort. Wofür auch sonst werden Literaturwissenschaftler mit deutschen Preisen ausgezeichnet (siehe Klappentext).

Ein gutes Thema wird mit vollem Einsatz völlig vergeigt - zumindest, wenn der Auftrag gewesen wäre, ein für Rußland repräsentatives Buch zu schreiben. Dies wird nämlich mit dem Untertitel des Buches ("Auf der Suche nach der wahren russischen Seele") suggeriert. Das Buch ist leider (und eventuell mit Absicht oder mangels Empathie/Können) von West nach Ost gedacht. Der Autor hat mit seiner nordischen Seele kein Verständnis für die ostische Lebensweise und schreibt deshalb mehr beobachtend als verstehend, was ja prinzipiell noch nicht schlimm wäre. Leider werden ein paar Chaoten und Exzentriker als die "russische Seele" hingestellt, und das ist der eigentliche Skandal, denn diese sind nicht repräsentativ für die Mehrheit der Russen! Obwohl sich der Autor vor dem Schreiben des Buches schon mehr als 10 Jahre mit Rußland beschäftigte, hat man oft das Gefühl, daß das Buch völlig ohne Hintergrundwissen als reine Beobachtung geschrieben wurde. Beispielsweise werden mehrere Sichtweisen ohne Bewertung direkt gegenübergestellt, was ein Leser ohne Hintergrundwissen weder bezüglich des Inhaltes noch bezüglich der Repräsentativität der Aussagen beurteilen kann, d.h. also ein großer Teil der Zielgruppe des Buches wird in ein Kaleidoskop aus Meinung und Gegenmeinung geworfen, und es werden keine weiteren Hintergrunddaten angegeben. (Ich will hier einmal nicht von "Fakten" sprechen, denn alle Schriftstücke sind durch den subjektiven Geist des Schreibers beeinflußt.) Wer hat in Deutschland schon ein fundiertes Rußlandwissen? Diesen Mangel des Buches finde ich erstaunlich und kann es mir eventuell dadurch erklären, daß ein pressekonformes Lektorat einige Stellen politisch korrekt umschreiben ließ, damit die Deutschen auch das deutsche Rußlandbild - wie es zu sein hat - im Kopf behalten. Am besten ist das Buch an den Stellen, an denen sich der Autor eingesteht, daß er absolut nichts von Rußland versteht, ebensowenig wie von dessen Bewohnern. Ich beschäftige mich erst seit 6 Jahren mit Rußland und habe insgesamt nur 5 Monate dort verbracht, doch durch die Teilnahme am Familienleben oder auch durch Veranlagung ein besseres Gespür und Verständnis für das Leben der normalen, einfachen Menschen dort. Der Autor trifft sich jedoch fast nur mit Chaoten; Gleiches zieht Gleiches an? Daß diese Chaoten als die “wahre russische Seele” verkauft werden, wie der Untertitel des Buches verspricht, ist schon eine kinnhakenstarke Frechheit, die leider den wenigsten auffallen wird, wie schon erwähnt. Viel interessanter wäre es doch, wenn sich der Autor einmal in Deutschland in den zugedrogten Großstädten bei Obdachlosen, Drogensüchtigen oder bei verschrobenen Einsiedlern auf die Suche nach der wahren deutschen Seele begeben würde. Leider würde der momentan vorherrschende, von oben vorgegebene gesellschaftliche Imperativ der Zersetzung und Selbstzerfleischung in Deutschland dazu führen, daß auch ein solches Buch ungehindert verbreitet und beworben werden würde. Ob man wohl über die USA schreiben würde, daß ein Staat, dessen Existenz mit Liquidierung eines Großteils der Ureinwohner begann, schon von vornherein als Unrechtsstaat angelegt war?

Generell finde ich also Bücher störend, die Neutralität vorgeben, aber absolut linientreu sind. Mit einem etwas geübten Blick kann man dies bei den Dumont-Büchern schon am Klappentext erkennen, aber kein Wunder: oft reisen irgendwelche ARD-Korrespondenten durch die Gegend, also muß man nach den Geldgebern nicht lange suchen.
Zur Linientreue zählt auch das Beschreiben von Rußland und seiner Geschichte in möglichst abschreckenden Bildern, deren wiederkehrende Motive Gewalt, Armut und staatliche Willkür sind. Dies soll die deutschen Leser wahrscheinlich von ihrer eigenen Bananenrepublik ablenken. Jedoch gehen diese Horrorfilmformulierungen beim Lesen des Buches auf die Nerven. Die Moskauer Uni als “Spukschloß” (S. 87) zu bezeichnen, zeugt zwar weder von Geschmack noch von Respekt, spiegelt aber deutlich die Ablehnung gegenüber der Sowjetunion bis ins Kleine und Kleinste, sogar gegenüber einem Gebäude, wider. Die Moskauer Studenten sind jedenfalls stolz auf ihre imposante Uni, und auch viele Touristen sind von dem Gebäude beeindruckt. Nur in ästhetisch ansprechenden Gebäuden wird der Geist beflügelt, was man von modernistischen deutschen Schulen und Universitäten absolut nicht mehr behaupten kann.
Moskau, unsere größte, schönste, reichste und prosperierendste Stadt Europas, bezeichnet der Autor als “kaputten Moloch, der nach dem Ende der Sowjetunion immer größer und voller und kaputter wurde”. Wie kann man denn so jemanden ein Buch über Rußland schreiben lassen?! Noch etwas härter und drastischer wird es dann beispielsweise auf S. 21: “In der nicht gerade blutarmen Geschichte Rußlands...” Wo gibt es bitte eine blutarme Geschichte; doch nicht einmal auf den Osterinseln…
S. 268: “[…] nicht ganz sicher, ob die Geister nicht längst aus der Steppe verschwunden waren, weil zu viel Blut das Gras getränkt hatte”. Sind wir hier bei einem Reisebericht oder im Horrorfilm? Ferner: S. 123: “Ein mörderisches Crescendo hallte durch Butowo. In knapp vierzehn Monaten wurden mehr als 20000 Menschen erschossen und verscharrt, im Schnitt etwa fünfzig pro Tag. Der jüngste dieser Konterrevolutionäre war vierzehn Jahre alt. Der älteste, ein achtzigjähriger Erzbischof, war so krank, daß man ihn liegend erschießen mußte, auf seiner Bahre.” Man merkt deutlich, wie der Autor Spaß daran hat, die Russen als grausam darzustellen und seine Formulierungen drastisch auszuschmücken. Sein Verhalten ist ein mit Absicht bei den Deutschen hervorgerufener Fehler: Geschichte nicht mehr ohne Emotionen sehen zu können, im Rahmen der westlichen Gedankenmanipulierung und Gedankenverbote. Hieraus resultiert dann auch der unaufhörliche westliche Drang, nach eigenem Gusto und eigener Weltanschauung zu richten und zu bestrafen und sich zu erheben über andere (S. 127): “In alttestamentarischer Stimmung lief ich zwischen den Holzhäusern umher, ich wollte Steine werfen. Es war nur keiner da.”
S. 161: “Europäische Architekten entwarfen Peters Paradies, russische Arbeiter bauten es. Die einen kamen freiwillig und gingen reich entlohnt, die anderen kamen in Ketten, und ihre Knochen stützen bis heute das Petersburger Fundament.” Dies könnte man wohl auch von beliebigen anderen Großstädten behaupten, doch nur bei Rußland wird auf “Blut, Knochen” und blabla hingewiesen.
Ein weiteres Beispiel: S. 67: “Lenins Traum, ein Albtraum, voller Blut und Knochen und Leid.” Ahja, noch mehr Propaganda ging nicht in diesen Satz hinein. Lieber mal Iwan Normalverbraucher fragen, ob er auch so denkt, denn dieser ist Zeitzeuge seiner sozialistischen Epoche, der Autor dagegen nicht! Mit der Aufforderung, speziell Iwan Normalverbraucher zu fragen, meine ich bewußt nicht die Elite und auch nicht die Opfer des Systems, sondern die Masse der Bevölkerung und ihre Meinung. Es liegt in der Natur eines jeden Systems, Opfer zu erzeugen. Die Opfer zu befragen kann nur für den Vergleich verschiedener Systeme dienen. (Der Fingerzeig auf die Opfer eines Systemes wird immer nur zur Diskreditierung politischer Gegner oder zu inländischen politischen Zwecken genutzt; in allen anderen Fällen wird das “normale Leben” betont.) Wenn die Mehrheit ihrer eigenen Meinung nach akzeptabel lebte, sollte man dies ebenfalls darstellen. Im selbsternannten “Buch der Kuriositäten Rußlands” wird beispielsweise nicht erwähnt, daß jeder in Rußland eine Krankenversicherung hat, aber in den USA nur ein paar Reiche. Dies wäre doch viel interessanter für die Leser als die Besäufnisse des Autors. Korrekter müßte das Buch also heißen “Mein russisches Abenteuer: auf der Suche nach Opfern der Gesellschaft” (anstatt “auf der Suche nach der russischen Seele”).
Zu diesem Thema (Systemvergleich, Kommunismus-/Sozialismusdiskreditierung) interessant ist übrigens auch das Verhalten der Behörden beim Unfall von Tschernobyl 1986 (Sowjetunion, Sozialismus) und Fukushima 2011 (Japan, Kapitalismus): Die Obrigkeit verhält sich der Bevölkerung gegenüber exakt gleich! Beschwichtigend, verharmlosend, bevormundend, vertuschend. Dies wird im Buch natürlich nicht erwähnt, kann aber in Eigenarbeit herausgefunden werden. Hieraus kann geschlossen werden, daß jedes System, jede Organisation primär ihrem eigenen Erhalt dient, egal ob dies nun Regierungen, Banken, die Wirtschaft, sog. “Wohltätigkeitsorganisationen” (DRK, Caritas, Brot für die Welt), Staatskirchen, Vereine usw. sind. Jedes abstrakte Konstrukt wird sich über die Menschen erheben, die es erdachten UND für die es erdacht wurde. Das Buch jedoch versucht, ein System (“Lenins Traum”) durch seine Fehler komplett zu entwerten. Doch auch und besonders im Kapitalismus gibt es “Blut, Knochen und Leid”, einfach mal die Drohnen verfolgen, die von Ramstein aus fliegen. Und solange jemand vom Krieg profitieren kann, wird es ihn geben. Entwertet dies also (laut Gedankenrichtung des Autors) den Kapitalismus komplett?
Weiterhin gehört zur Linie, auf die das Buch gebürstet ist, Westbeteiligungen bei Ereignissen in Rußland grundsätzlich nicht zu erwähnen, beispielsweise die Mitfinanzierung von Lenins Revolution (S. 23) oder die Rolle Österreichs in Galizien/Wolhynien (heute Westukraine) und auch bei der Neuentwicklung der ukrainischen (ruthenischen) Sprache im Zuge der Entrussifizierung (S. 27); vgl. hierzu auch die russophobe Schrift “Wo liegt die Ukraine? Standortbestimmung einer europäischen Kultur” von 2009, in der sich über Ukrainophobie lustig gemacht wird (S. 209) und über Graf Stadion, der die Ruthenen erfunden haben soll (mit vielen Punktpunktpunkt-Entrüstungszeichen). Kommen wir zurück zum russischen Abenteuer. Der Autor stellt im weiteren Verlauf der Geschichte, während er von Kiew nach Moskau reist, zwei Meinungen kommentarlos gegenüber: “Die Ukraine war kultureller und geographischer Teil Rußlands. Die Ukraine ist eigentlich gar kein Land.” (S. 27) und: “Rußland war kultureller und geographischer Teil der Ukraine. Rußland ist eigentlich gar kein Land.” Eine der beiden Aussagen ist vollkommener Unsinn und sollte sogar von Laien sofort erkannt werden. Umso schlimmer, daß hier beide Aussagen als gleichwertig transportiert werden. Endlos viele Ereignisse der russischen Geschichte werden in diesem Buch NICHT auf Auslandsbeteiligung untersucht, beispielsweise wären dies die Westfinanzierung der Oktoberrevolution, Rothschildbeteiligung bei der Entwicklung des Bankensystems, Spekulantengewinne (u.a. Soros) und Ausplünderung der Rohstoffe Rußlands nach dem Zerfall der Sowjetunion, und auch der Einfluß von Geldgebern wie Soros beim (durch die EU und USA erzwungenen) Regimewechsel in der Ukraine 2014. Klar, zuhause in den USA wühlen die Leute im Müll, keiner hat eine Krankenversicherung, die Schulden türmen sich bis zu Mond, aber für die Ukraine hat man 5 Milliarden Dollar übrig…! Dies hätte der Autor bei genauerem Hinsehen schon beim Schreiben des Buches (also vor 2012) erkennen können. Hingesehen hat er schon, aber erkannt hat er nichts. “Orangene Revolutionen” werden in keinen Zusammenhang gesetzt zu anderen Farbenrevolutionen und ihren Finanzierern und Profiteuren (!). Ebenfalls extrem lächerlich ist die Darstellung der Ukraine als blühende und ertragreiche Landschaft (analog der Beschreibungen auf den Soros-Flugblättern, die um den Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion in der Ukraine verteilt wurden). Die Realität wird die EU schnell einholen, denn die Ukraine ist der wirtschaftliche Alptraum der EU, ein Faß ohne Boden, ein Geldfresser, den man bald im Schweiße des eigenen Angesichts durchfüttern darf. Dies war zu Zeiten der Sowjetunion auch nicht anders, man vergleiche einmal die Zahlen des dem deutschen Länderfinanzausgleich ähnlichen Systems: Rußland zahlte immer Umlagen an alle anderen Staaten der Sowjetunion, auch an die Ukraine! Insofern ist die Aussage auf S. 27 Quatsch, daß “die Ukraine entschieden hätte, kein sowjetisches Staatseigentum mehr zu sein”. Man merkt ja, wie super es ihr als Spielball der geopolitischen Interessen und als Ausplünderungsobjekt durch u.a. die Banken momentan geht. In gewisser Weise ist jeder für sein Glück selbst verantwortlich und sollte mal zuhause aufräumen, anstatt immer nur andere verantwortlich zu machen und zu denken, für jeden Hundehaufen in Kiew müßte man sich erstmal in Moskau beschweren. Dennoch sollten ausländische Interessen im eigenen Land von allen Seiten betrachtet werden und ausländische Finanzierung von Aktionen, Demonstrationen oder beispielsweise von (N)GOs und ihr Treiben im eigenen Land genau verfolgt werden. Den USA ist es egal, ob in der Ukraine die Hütte brennt, die verkaufen das noch als fortschrittliche Revolution, aber dem Nachbarn kann das nie egal sein.
Die Folge der vom Autor gezeigten selbst auferlegten linientreuen Denkeinschränkung ist zwangsläufig das schlechtere Verständnis aller anderen Positionen.
Daten sind unnötig, Spekulationen reichen, beispielsweise auf S. 54 zum Thema “durch Stalin ausgelöste Hungersnot”: “Nirgends traf es die Bauern so hart wie in der Ukraine. Niemand kennt die Zahlen genau.” Das sind doch zwei völlig widersprüchliche Sätze, die direkt hintereinander stehen.
Ungefiltert werden hier alle möglichen Meinungen abgedruckt, z.B. von Rußlandunkundigen, S. 37: “Die Russen sind nicht einmal richtige Slawen, das haben Wissenschaftler herausgefunden, ihre Gene sind zu siebzig Prozent tatarisch, finnisch, estnisch...” Nicht ganz dicht? Da hat jemand aber keine Ahnung vom Vielvölkerstaat Rußland bzw. war wohl noch nie dort gewesen. Die Russen sind kulturell, genetisch und religiös verschieden, d.h. unterscheidbar, von den Dutzenden der in Rußland lebenden Minderheiten wie etwa Tataren oder Wolgafinnen (Mari). Wie kann man denn so einen Unsinn unkommentiert abdrucken? Dies dem unbedarften Leser einfach hinzuknallen, halte ich für fragwürdig.
Weiter: Man trifft sich mit Randalierern, Denkmalzerstörern. Lapidares Fazit des Autors: “Tjo, denen gefiel die Vergangenheit halt nicht. Besser Denkmäler zerstören, als Menschen angreifen.” Also, wenn mir sein Buch nicht gefällt, dann könnte ich mich durch Randale an den Vermögenswerten, bspw. an seinem Auto, so am Autor rächen?! Das kann es ja wohl nicht sein, Selbstjustiz und Gewalt zu bewerben. S. 55: “Nicht zum ersten Mal im Laufe des Gesprächs spürte ich so etwas wie Sympathie für diesen wütenden Mann.” Gleich und gleich gesellt sich gern. Und der nächste Bericht könnte dann von den “sympathischen” Hamburger Autoanzündern oder von den Berliner Sbahnbombenlegern handeln, die tun schließlich auch nur das, was ihr Gewissen ihnen sagt, und protestieren gegen das System.
Immer wieder gibt sich der Autor apokalyptischen Fantasien (Wunschträumen?) hin. S. 68: “Irgendwann in dreihundert Jahren würde ein deutscher Journalist durch Rußland reisen, um tief in der Taiga den letzten Kommunisten aufzuspüren.” Dieser Satz hat so eine Art Belehrmentalität und sagt gar nichts aus über das System des Kommunismus an sich, außer, daß der Autor es ablehnt. Vielleicht sind die nach Meinung des Autors “Ewiggestrigen” auch Ewigmorgige, die in der gegenwärtigen Niedergangskultur zur falschen Zeit am falschen Ort sind?
Eine weitere apokalyptische Fantasie auf S. 98: “Irgendwann würde ein archäologisches Forschungsteam den Boden durchwühlen, auf dem einmal Moskau gestanden hatte.” Eventuell ist dies auch ein Hinweis auf die destruktive, depressive Psyche des Autors. Jedenfalls gibt der gegenwärtige Verlauf der Ereignisse eher Hinweise auf kulturelle Weiterentwicklung im Osten, während das einzige, was im Westen noch läuft, die Schwulenparade oder der Trauermarsch nach Anschlägen ist.
Das Lektorat hätte auch ein bißchen mehr auf Inhalt und nicht nur auf Linientreue achten dürfen, z.B. (S. 75): “Wanja bewohnte das vierte, kleinste Zimmer. […] Lena bewohnte das vierte Zimmer.”
Beim Ausflug nach Moskau wird auch die russische Musikgruppe “DDT” zitiert. Nun verstehe ich, warum Putin diese Chaoten nicht besonders respektiert. Zitat aus einem Lied (S. 75): “Gestern im Wald sah ich die russische Idee. Sie lief zwischen gefällten Kiefern umher, mit einem Strick um den Hals.” Was ist das denn für ein gedankenvermüllender Dreck? So etwas wäre zu Zeiten der Sowjetunion nicht verbreitet worden.
S. 121: Der Autor wertet den “Untergang des Imperiums” als die Befreiung, (“Das Imperium wurde altersmilde und räumte Fehler ein”), doch genau zu diesem Zeitpunkt gingen doch der Zerfall, die Bereicherungen, Verbrechen und die Armut erst richtig los, und die meisten Russen denken deshalb gerade an diese letzte Phase der Sowjetunion, die quasi nahtlos in den ungebremsten Raubtierkapitalismus überging, nur mit Schrecken zurück. Man mußte schauen, wie man überhaupt für die Kinder was zu essen auftrieb, und die öffentliche Sicherheit ging gegen null. Aber davon schreibt der Autor natürlich nichts. (Dennoch brach in den “wilden 90ern” in Rußland kein Bürgerkrieg aus, was dem großen Zusammenhalt der Russen zu verdanken ist. Eine Krise so zu überstehen, das schaffen wir heute mit Multikulti nicht mehr.)

Er hat eine negative und schuldbeladene Einstellung zur eigenen Kultur. Wer seine eigene Kultur nicht liebt, kann fremde Kulturen auch nicht lieben. So denkt er in der Sauna beim Betrachten russischer Tätowierungen (S. 149): “Bläuliche Sonnenräder rollten in alle Richtungen, flankiert von Runen, die nicht kyrillisch aussahen, sondern gespenstisch germanisch.” Also eigentlich ist im Westen ja alles super, außer Deutschland, denn alles Deutsche hat abgewertet zu werden. Seine ihm eingeredete Erbschuld bemerkt man auch auf S. 157: Er fühlt sich persönlich schuldig für die Leningrader Blockade und muß erst von einem russischen Veteranen davon befreit werden: “Das ist alles lange her. Denken Sie nicht darüber nach, junger Mann.”

An der nächsten Station der Reise, und zwar in Sankt Petersburg, trifft er einen Mann, der vom letzten Zaren abzustammen glaubt. Seine Geschichte ist medizinisch allerdings nicht haltbar (S. 167): Der Sohn des letzten Zaren hätte sich bei der Erschießung unter seinem Vater versteckt und tot gestellt, so daß “nur ein paar Kugeln” durch Arme und Beine gingen; bei der Flucht wurde ihm dann noch die Ferse zerfetzt. Jede einzelne dieser Verletzungen wäre schon tödlich für jemanden, der an der Bluterkrankheit leidet.

Manchmal kommt es einem auch so vor, als ob der Autor (wie Karl May) im Blindflug über ein Thema schreibt, mit dem er in der Realität noch nie in Kontakt kam. Besäufnisse werden überproportional stark betont in diesem Buch, obwohl dies nicht anders ist als in Deutschland. Aber zu behaupten, daß in einem Zug in der Regel “betrunkene Soldaten” mitfahren (S. 185), ist ja wohl die Höhe. Betrunkene werden gar nicht erst in öffentliche Verkehrsmittel einsteigen gelassen, im Gegensatz zu den Zuständen in Deutschland! In Rußland fühlt man sich in jedem öffentlichen Verkehrsmittel extrem sicher. Eventuell hatte hier aber auch wieder ein politisch korrekter Lektor die Finger drin, der das politisch korrekte Rußlandbild festigen muß. So wird gerne mal ins Blaue hinein behauptet (S. 188): “Alle, die Stalin persönlich kannten, hielten ihn für dumpf und talentlos.” Nun, der Autor kannte ihn offensichtlich nicht persönlich, aber so eine Pauschalbehauptung ohne Quellenangabe ist dann schon ziemlich dreist. “Alle, die ihn kannten, fanden dies und das”, Hörensagen wird hier als Quelle verkauft. Ein bißchen genauere Recherche hätte ich mir generell gewünscht, und Quellenangaben gleich beim Zitat und nicht gesammelt im Anhang. Auch bei folgender Aussage hätte es nicht geschadet, sich etwas mehr Mühe zu geben (S. 202): “Ein vergessener Kartograph, der keine plausibleren Landmarken [als den Ural] fand, hat ihn zur Nahtstelle des siamesischen Zwillingskontinents Eurasien erklärt.” Wenn man ein bißchen sucht, findet man auf Anhieb gleich mehrere Kartographen, welche Eurasien so abgrenzten, beispielsweise Philip Johan von Strahlenberg, oder auch Wassili Tatischtschew, der Geograph Peters des Großen.

S. 202: “Europa und Asien weigerten sich, ihren ewigen Ehekrach vor meinen Augen auszutragen.” Gibt es da einen Ehekrach? Wäre mir neu.

Die positiven Aspekte des Buches kann man lange suchen, aber dennoch: Der Autor versucht, Geschichte anschaulich zu erklären (wenn auch tendenziös). Es werden illustre Charaktere vorgestellt (aber wie gesagt: selbst überlegen, wie repräsentativ diese wohl für Iwan Normalverbraucher sind!). Der Autor nimmt alle Spuren auf und reist einfach zu den Leuten hin, auch direkt in die russische Pampa aufs Dorf, ohne zu wissen, ob er dort eine Übernachtungsmöglichkeit finden wird. Am besten gefallen hat mir der Ausflug nach Tschernobyl, die Reise in die wilde bewaldete Taiga und natürlich der Besuch der Einsiedlerin, auf den das ganze Buch hinausläuft. Unglaublich, unter welchen Bedingungen man in Sibirien mit einfachsten Mitteln und 40 Jahre alten einfachsten Werkzeugen (über)leben kann (S. 352)! Fischen, Ackerflächen im Wald roden, und von den Früchten des Waldes leben. Sich auf den Winter vorbereiten und ohne Heizung im Wald im sibirischen Winter überleben. Und dann auch noch alleine, als über 60-jährige Frau. Sie hatte die Härten des Lebens erlebt: wenn man erkrankt, kann man nicht mal schnell nen Arzt holen (S. 355, 357). Sie und ihre Vorfahren suchten den Weg zum Paradies (S. 360/361).
Gefallen hat mir auch die Theorie des Mathematikers Anatoly Timofeevich Fomenko, welcher geschichtliche Chroniken mithilfe der Mathematik aufdröselt und versucht, sie so zusammenzufassen (S. 17): “Die Habsburger gingen im Römischen Reich Deutscher Nation auf, die Romanow-Dynastie verwuchs mit den Karolingern, aus Karl dem Großen wurde Iwan der Schreckliche. Uhren zerflossen, Zahlenkolonnen tanzten, 2000 Jahre Geschichte schüttelten ihre Krebsgeschwüre ab, 1000 Jahre blieben übrig.” Die Geschichte aus mathematischer Sicht zu sehen ist schon ein interessanter Ansatz; und wer weiß schon, wie es wirklich war? Jede Quelle ist geschrieben aus subjektiver Sicht und beabsichtigt höchstwahrscheinlich auch, irgendeineine Wirkung zu erzielen. Darüber hinaus wird jede Quelle aus subjektiver Sicht interpretiert. Die ganze Geschichtsschreibung ist höchst schwammig, damit auch unser Wissen. Es gibt verschiedene Interpretationen, die wir alle berücksichtigen bzw. in Betracht ziehen sollten. Eine von Fomenkos Interpretationen ist (S. 94/95): “Zum Christentum konvertiert war Rußland nicht ein knappes Jahrtausend nach Christus, sondern kurz nach der Kreuzigung – nicht später als die anderen Völker Europas, sondern vor ihnen, früher noch als die Römer. Auch die demütigende, jahrhundertelange Unterwerfung durch die Mongolen hatte es nie gegeben, im Gegenteil, die Mongolen waren Söldner im Dienste des Kremls gewesen, mit ihren Reiterhorden hatte Rußland die Welt beherrscht – denn das Machtzentrum jenes geheinisvollen Weltreichs, dessen Spuren an der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert so sorgfältig verwischt worden waren, war Moskau gewesen.” Sich der Unsicherheit der Geschichte bewußt zu sein ist ein Vorteil, denn wie Fomenko sagt, finden Archäologen doch meist das, war sie zu finden glauben (S. 95). Viele Russen sind sich der überall auf der Welt vorhandenen Unsicherheiten und Fälschungen bei der Geschichtsschreibung bewußt und haben deshalb eine relativ vernünftige Sicht auf die Dinge. S. 86: “Es gibt in diesem Land keinen historischen Konsens mehr, jeder hält alles für möglich.” Ist das nicht eigentlich ein Zeichen von Intelligenz?
Es kommt einem so vor, als sei der Autor lernresistent: Er trifft sich mit Fomenko und diskutiert über die Unsicherheiten der Geschichtsschreibung, doch nach wie vor folgt er der westlichen Doktrin “UdSSR – Unrechtsstaat” und sucht Beispiele anstatt breites Verständnis aller Zusammenhänge. So wird eine Seite der Sichtweisen pauschal abgelehnt, die andere pauschal akzeptiert, bzw. manchmal werden auch beide Sichtweisen als Meinungen ohne weitere Hintergrundinfos kommentarlos stehengelassen. Dies zeugt nicht von Klugheit, doch wahrscheinlich bekommt man kein Geld oder findet keinen Verlag, wenn man eine viel neutralere Sicht der Dinge verbreiten würde. Der strenge Faden, auf den das Buch aufgezogen ist, ist durchweg und konsequent deutlich zu spüren (S. 32): Gerade waren wir uns über die Unsicherheiten der Geschichte klar geworden, da treibt der Autor schon die nächste geschichtliche Sau durchs Dorf, natürlich in die vorgegebene Richtung. Es gibt nur eine Chronik, welche von den Warägern berichtet (Normannen, verwandt mit den Wikingern; ihnen wird mancherseits die Einung der slawischen Völker zugesprochen), jedoch läßt der Autor nun seine Gedanken auf dieser einen Chronik ruhen und spekuliert darüber, warum die Russen später nicht mehr “wahrhaben” wollen, daß sie “ihre Staatsgründung angeblich einem fremden Volk verdanken”. Wenn dies doch sowieso unsicher ist, und mit nur einer vorhandenen Chronik extremst unsicher, wieso dann diese Wortwahl mit “wahrhaben”? Dies hätte man doch auch neutraler formulieren können. Zumindest wird so die Linientreue in vielen Fällen unverschleiert und deutlich sichtbar: S. 101: “Eine Geste Katharinas der Großen im toleranten Geiste der westeuropäischen Aufklärung”. Aha, es gibt also Dinge, die haben keine Kehrseite der Medaille, wie etwa die Aufklärung. Dies erinnert mich an die Meinungen über die französische Revolution, Bürgerrechte und pi pa po, aber eigentlich ging nur die Aristokratie des Blutes in die Aristokratie des Geldes über und es änderte sich nichts. Heutzutage sind wir genauso Sklaven des Systems und Leibeigene wie damals.
Der Autor geht außerdem den Spuren ungewöhnlicher Ikonen nach und findet auch hier so einige Kuriositäten. Ikonen, die er besucht, sind beispielweise “Erlöser von Tschernobyl” (S. 64), “Die Taufe im Dnjepr” (S. 112), “Die Gottesmutter vom Don” (S. 113), “Die Märtyrer von Butowo” (S. 126), “Ikone von Jewgeni Rodinow” (S. 133), “Die heillige Matrona von Moskau” (S. 174; mit Stalin im Bilde; hier entrüstet sich natürlich der schwarzweißdenkende Westler, für den alles ganz einfach ist, und sieht nicht die tausendschichtige Realität, die sich überlagert und überschneidet).
Auch der Sprach- und Erzählstil des Buches ist prinzipiell interessant gehalten und wahrlich für den Leser bzw. für das Lesevergnügen konzipiert. Dies wird beispielsweise bei der Schilderung des Besuchs in Tschenobyl deutlich. Hier hat mir die Art und Weise gefallen, mit der beschrieben wird, was Materialismus und unsere Verbrauchsgesellschaft sowohl aus einer Stadt als auch, im Umkehrschluß, aus den Menschen machen kann (S. 59): “Müll würde in Kiew bleiben, Werbung, das Leuchten der Joghurtbecher, das Geschrei der Plakate, bleiben würden Widersprüche, Banalitäten, ein sinnloser Übeschuß an Dingen und Bildern, wie ihn nur Konsumgesellschaften produzieren. Die “Zone” ist anders. Sie ist aus einem Guß. Alles in ihr gehört zusammen, noch ihre banalsten Überbleibsel sind Teil des sozialistischen Ganzen. Obwohl ihre Betonfassaden bröckeln, wirkt sie auf gespenstische Art intakter als das Land, das sie umgibt.” Vereinzelt sind auch philosophische Elemente oder Denkanstöße zu finden (S. 60/61): “Kernkraftwerke betreiben Spaltung, dazu sind sie da. Dieses eine aber spaltete alles: Lebenswege, Familien, Namen. Und die Zeit. Erst nachher wußte man, daß es ein Vorher gab. […] Vater Nikolaj wußte, daß das Kernkraftwerk keine Seele hat. Wie soll es eine haben, wo es ohne Seele gebaut wurde? Mit der flachen Hand schlug er auf das Lenkrad seines Opels, Baujahr 94. Der Opel war alt, aber er hielt das aus. Warum? Weil die Deutschen ihn mit Seele gebaut hatten.” (Naja, Opel ist eigentlich schon lange nicht mehr deutsch, aber darüber sehen wir mal hinweg.)
Immerhin ist auch die Sprachpflege in Ordnung, nur selten begegnen uns nervige englische Begriffe (S. 66 “Backpacker”, dies hätte man doch einfach ersetzen können).
Und nicht zuletzt liefert das Buch Anregungen zur weiteren Lektüre und auch zu Reisen, zum Beispiel (S. 19): “Ich sah die Gipfel des Kaukasus, die Wälder Sibiriens, die Vulkane Kamtschatkas. Ich schwamm in der Moskwa und in der Wolga, im Schwarzen Meer und im Baikalsee. [Meine Anmerkung: Da fehlen aber noch einige Meere…! Das kaspische Meer, die Ostsee und evtl. die Pazifikküste, falls man da irgendwo schwimmen kann. XD], oder auch das Petersburger Marinemuseum.
Gute Zitate sind weiterhin folgende:
S. 208: “So funktioniert Kapitalismus in Rußland: jeder denkt nur an sich, und am Ende bleiben wir alle arm.” Nun, nicht nur in Rußland, würde ich sagen. Aber lustigerweise war das eine Aussage eines russischen Waldschutzbehördenmitarbeiters. Oft hat man das Gefühl, die Russen lassen sich nicht so leicht hinters Licht führen und schauen (im Gegensatz zu Westlern) auch hinter das Etikett. Leider wird natürlich Putin als der Schuldige hingestellt (S. 208 “Putins Planwirtschaft”), obwohl dieser gegen Oligarchen vorgeht und sie auf Linie zu den Landesinteressen bringt. In der EU dient dagegen das Geld nur noch sich selbst und nationale Interessen werden aufgelöst wie eine Brausetablette.
S. 209: “Den Mut, sich etwas Eigenes aufzubauen, haben nicht viele in Rußland. Aber das eigentliche Problem ist, daß niemand mehr etwas Gemeinsames aufbauen will.”
Der Autor hat überhaupt keinen Respekt, was vermutlich der westlichen Schlägerdoktrin bei Meinungen geschuldet ist: es gibt nur eine richtige Meinung und alles andere gehört kaputtgeschlagen bzw. abgerissen. Insofern hat der Autor es seiner Meinung nach nicht nötig, bei Museen o.ä. Respekt zu zeigen, wenn ihm das Thema nicht paßt: S. 242: Bei einer Führung durch Lenins Landhaus in Schuschenskoje fällt dem Autor nichts besseres ein, als sich für Lenins Nachttopf und etwaige Seitensprünge mit dem Dienstmädchen zu interessieren. Also, wenn ich bei jemandem zu Gast bin, dann frage ich auch nicht, wer dort das Klo putzt oder ob man Erfahrungen mit moralischen Verfehlungen hat. Mit Respekt an die Sache heranzugehen, liegt nicht in der westlichen Einzelkämpfernatur, denn am deutschen bzw. westlichen Wesen soll die Welt genesen: Man hat eine Meinung zu vermitteln, anstatt die Leute zum (Mit)Denken anzuregen. Diese Voreingenommenheit verhindert es, ein Band des Verständnisses mit anderen Kulturen bzw. mit Menschen im allgemeinen aufzubauen. Der Autor macht sich lieber über andere Meinungen wie beispielsweise die Furcht vor dem Gechiptwerden lustig (S. 250) und hat bestimmt noch nichts davon gehört, daß dies in Schweden und den USA bereits jetzt getestet wird: Menschen einen Mikrochip unter die Haut zu pflanzen, der u.a. zur Identifizierung oder zum Bezahlen genutzt werden kann.
Weitere Beispiele für emotionale Empörung anstatt sachlicher Berichterstattung: S. 264: Es wird der Umgang der Russen mit anderen Völkern im Land angeprangert, ohne auf die massiven Mißstände hinzuweisen, die vor den Russen dort geherrscht hatten. In Sibirien verkauft man heutzutage keine Frauen mehr für Pelze, aber andere Völker außer den Russen werden nicht kritisiert. Nur ein Hauch der Wahrheit dringt durch, als eine Chakassin meint, vor den Russen hätte es keine Schulen dort gegeben. Außerdem wird behauptet, daß regionale Sprachen in der Sowjetunion nicht gefördert wurde (S. 265: „Bis zum sowjetischen Untergang redeten wir nicht in der Regionalsprache.“). Dies ist falsch, denn in den Schulen wurden bestimmte Fächer wie Mathematik auf russisch unterrichtet, doch es gab auch regionalsprachliche Fächer zu Kultur und Sprache. So etwas gibt es in Deutschland bis heute nicht! In der Sowjetunion lebten verschiedenste Kulturen unter der großen Mehrheit der Russen zusammen. (S. 266: „Der sowjetische Mensch schätzte es nicht, wenn sowjetische Mitmenschen sich unsowjetisch ausdrückten.“ Noi, falsch!) Die russische Kultur und ihre Dominanz verband alle, während in den 90ern seitens der USA Abspaltungen und Unfriede gefördert wurden (Ukraine u.a.). Ohne starke Leitkultur gibt es nur gescheiterte Multikultistaaten, wie beispielsweise Afghanistan.
Der starke Zusammenhalt aufgrund der Leitkultur ermöglichte es Rußland, Krisen ohne Totalschaden zu überstehen. Die Verantwortung russischer Politik ihren Bürgern gegenüber wird auch dadurch deutlich, daß seit Zeiten der Sowjetunion bis heute im Schulunterricht „Grundlagen sicherer Lebensführung“ unterrichtet werden, so daß sie in Krisensituationen handeln können. Darüber macht sich der Autor lustig und bezeichnet Geschlechtskrankheiten und Nuklearunfälle als russische Gefahren (S. 271), obwohl beides heutzutage Probleme der westlichen Welt sind. Oder hat der Autor den Fukushima-Kernkraftwerksunfall 2011 nicht mitbekommen? Ist es nicht eher sinnvoll vorbereitet zu sein, als sich lustig zu machen, in einer rosaroten Multikulti-Wattewelt zu leben und Opfer in der Bevölkerung zu riskieren? Der westliche Drang, sich über andere zu erheben, zu amüsieren und sie belehren zu wollen, ruiniert weite Strecken des Buches und nimmt ihm auch die Möglichkeit, es genußvoll lesen zu können.
Woher Ideen kommen, die Sibirien am liebsten von Rußland abspalten würden, das erkennt der Autor nicht: S. 276: Ein Sibirier beschwert sich, die Kolonie Europas zu sein, aber er erkennt nicht, daß die Moskauer Tag und Nacht arbeiten und dort ein wichtiger Wirtschaftsmotor des Landes ist, bzw. daß die Leute dort ebenfalls etwas leisten.
S. 279: Bestechung gibt es laut dem Autor nur in Rußland (realitätsfern!): „Ich hatte mich aus der allgemeinen Bestecherei als Ausländer immer herausgehalten.“ Also mir ist das in Rußland noch nie begegnet – was nicht heißt, daß es das nicht gibt, aber daß seine Darstellung völlig verzerrt ist.
Herumreiten auf 12 Jahren von 1000 Jahren deutscher Geschichte bleibt nicht erspart, als er beispielsweise von einem Kosaken erzählt, der sich der Wehrmacht anschloß, S. 310: „Sie wußten von den Juden? - Die Deutschen haben kein Geheimnis daraus gemacht.“ Na sicher… xD „Der Staatsanwalt aber mochte ihn, er war Jude.“ (S. 313)

Ein paar wenige witzige Stellen gibt es dennoch, z.B. S. 333: „Wir wähnten uns schon fast am Ziel. Dann erkrankte der Passagierscheinbeauftragte; sein Stellvertreter war auf der Datscha; der Führer war nicht auffindbar; das Boot hatte einen Motorschaden; das Ersatzteil des japanischen Herstellers hing im Zoll fest; kurz, die Dinge gingen ihren üblichen russischen Gang.“ xD

Eine meiner ausführlichsten Rezensionen für ein Buch, was ich mit am wenigsten mochte. Es ist wie bei der modernen Kunst, wo man sich denkt: “Das könnte ich auch, aber besser.” Und zwar in erster Linie ohne die Indoktrinierung von Unwissenden voranzutreiben. Über Rußland schreiben kann jeder, der schreiben kann; aber mit ablehnender Haltung sollte man sich gar nicht erst auf die Suche nach der russischen Seele machen.
Fazit: Diesen Käse kann man sich sparen. Leute, spart euch das Geld und fahrt selber nach Rußland!

ISBN: 9783770182589. Rezensionszeitpunkt 05.03.2017

Erwähnte Bücher:

a) Quellen S. 368-370:
Anna Achmatowa “Vor den Fenstern Frost”
Neal Ascherson “Black Sea”
Awwakum “Das Leben des Propheten Awwakum”
Wissarion Belinskij in Massie “Peter the Great”
James H Billington “The Icon and the Axe”, “Russia in Search of Itself”
Thomas Brenner “Kreuz und Kreml”
Fjodor Dostojewskij “Tagebuch eines Schriftstellers”
Orlando Figes “Die Tragödie eines Volkes”, “Nataschas Tanz”
Oleg Filatow “Istorija duschi ili portret epochi”
Anatolij Fomenko “Chronology: Science or Fiction” (S. 85, weitere: (Titel wohl auf deutsch übersetzt): 400 Jahre Betrug: Die neue Chronologie für Anfänger / Warum der Trojanische Krieg im Mittelalter begann / Rußland und die Mongolen: Wer eroberte wen?)
Ian Frazier “Travels in Siberia”
Arkadij Gajdar “Timur und sein Trupp” (S. 254)
Lidija Golowkowa “Chudoschniki I butowskij poligon”
Maxim Gorkij “Warenka Olessow und andere Erzählungen”
Peter Hauptmann “Rußlands Altgläubige”
Herodot “Historien”
Felix Philipp Ingold “Die Faszination des Fremden”
Wasilij Kaleda “Swjaschtschennomutschenik Wladimir Ambarzumow”
Ryszard Kapuscinski “Imperium”
Igor Knjaskin “Bolschaja kniga o Rasputine”
Sheiko Konstantin “Lomonosovs Bastards”
Tatjana Lagutina “Letschenije Wodkoj”
Philip Marsden “The Spirit-Wrestlers”
Robert K Massie “Peter the Great”, “The Romanovs: The Final Chapter”
Maxim Maximow “Moschno li speschit' s kanonisazijej”
Heiner Müller “Germania 3”
Igor Nasarow “Tajoschnye otschelniki”
Nestor Nasarow “Erzählung der vergangenen Jahre” (S. 33)
Konrad Onasch “Ikonen”
Shane O'Rourke “The Cossacks”
Wassili Peskow “Die Vergessenen der Taiga”
Wadim Petrow “The Escape of Alexei”
Alexander Puschkin “Der eherne Reiter”
Wadim Redkin “Poslednij Sawet” “Das letzte Testament”
John Reed “Ten Days that Shook the World”
Anna Reid “Borderland”
Nocolas V. Rianasovsky “A History of Russia”
Rainer Maria Rilke (Übersetzer) “Das Igor-Lied”
Wolfgang Ruge “Lenin: Vorgänger Stalins”
Boris Saks “Soljonoje Osero”
Alexander Schargunow “Nowyj mutschenik sa Christa woin Jewgenij”
Alexander Schekschejew “Gajdar I krasnyj banditism”
Juri Schewtschuk “DDT: Mir nomer nol'”
Karl Schlögel “Terror und Traum”
Michail Scholochow “Der Stille Don”
Gennadij Sdanowitsch “Strana gorodow”
Robert Service “Lenin”
Viktor Shrinelman “The Discovery of Arkaim”
Wladimir Solouchin “Soljonoje Osero”
Colin Thubron “Amond the Russians”
Galina tolstowa “Drewo Awwakuma”
Anton Tschechow “Die Steppe”
Lew Tolstoi “Krieg und Frieden”
George Turberville “A History of Russia”
Irina Yazykova “Hidden and Triumphant”

b)
S. 85 weitere (Titel wohl auf deutsch übersetzt): Wer finanziert Rußlands Niedergang? / Genozid am russischen Volk: Sie nennen es Kapitalismus / Geheime Fronten: Wie der Westen Rußland umzingelt / Die Wikingerlüge: Rußlands wahre Ursprünge / Okkulte Quellen der Oktoberrevolution / Geheimdokumente der russischen Freimaurer
S. 85: Fomenko liest folgende Autoren: Thukydides, Homer, Herodot, Xenophon, Cicero, Joseph Scaliger (“er hat alles falsch gemacht”)
… (meer)
 
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Jantarnaja | 2 andere besprekingen | Mar 5, 2017 |

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